Porträt
„Rettung ist Familiensache“
Guido Kühler hat alle Stationen der rettungsdienstlichen Ausbildung durchlaufen und schult heute selbst entlang der digitalen Rettungskette. Ein Schichtbesuch.
Ein kleines, blaues Superheldenmännchen mit blondem Haar und rotem Umhang erhebt sich in die Luft. Zusammen mit der Auszeichnung „SUPER DAD“ ziert es „die Wachtasse“ von Guido Kühler, 50, aus Aachen. Um kurz nach 7 Uhr morgens tankt der Familienvater und Notfallsanitäter Kaffee auf, ehe seine 24-Stunden-Schicht im Rettungsdienst beginnt.
„Rettungsdienst – das ist wie Familie. Das ist auch mal Jökes und Spökes. Das ist viel Zeit zusammen. Die Übergabe beim Kaffeetisch am Morgen ist da ganz wichtig“, sagt der geborene Rheinländer. Um 7:30 Uhr übernimmt er gemeinsam mit seinem Teampartner und den Kollegen für 24 Stunden die Wache. Die Besatzungen aller Fahrzeuge versammeln sich in der Halle, hier gibt es die wichtigsten Informationen und Besonderheiten zur Schicht oder aktuellen Baustellen. Im Anschluss werden die Fahrzeuge überprüft.
Der „RTW“ wird in Augenschein genommen: Überprüfung und Auffüllen des Materials, der Medikamente, Funktionstest der Telenotarzttechnik. Dazu unternimmt Guido einen Testnotruf und prüft mit dem Telenotarzt, ob Kamera im Rettungswagen, Smartphone zur Übermittlung von Fotos z.B. von der Einsatzstelle, von Arztbriefen und Medikamentenliste, peeqBox und der Datentransfer von EKG und Sauerstoffsättigung funktionieren. Dann desinfiziere ich alle Kontaktflächen“, sagt er. Zuletzt fehlt nur noch eine gelbe Box, die Guido im Cockpit verstaut.
Die gelbe Box
Darin lagert er einen Schokoriegel, ein Tourniquet zum Abbinden von Amputationsverletzungen, ein paar Stifte und ein kleines Notizbuch. „An der Box erkennen die Kollegen schnell, dass ich im Einsatz bin, selbst wenn der Rettungswagen irgendwo steht“, sagt Guido. Seit 2004 notiert er darin stichpunktartig die Einsätze während seiner Schicht: Einsatzort, Einsatzzeit, Einsatznummer und ob es ein „Notfall 1“ ohne – oder ein „Notfall 2“ mit bodengebundener Notarztbegleitung war. Außerdem einen Hinweis zur Diagnose. „Das steht zwar alles in der Einsatzdoku, aber so kann ich mich bei Rückfragen schneller erinnern“, sagt er. Elf Mal wird er an diesem Tag ausrücken, so steht es später in seinen Notizen. 75 Rettungswagen fahren in Deutschland derzeit mit der Telenotarzt-Technik von umlaut. An Bord begleiten Guido dabei ein Rettungssanitäter:in, eine Auszubildende(r) sowie der Telenotarzt per Knopfdruck.
Bei über 30.000 Einsätzen schalteten Guido und seine Kollegen seit der Gründung im Jahr 2014 einen Telenotarzt von umlaut hinzu. „Die Leitstelle schickt uns vor allem zu Einsätzen, die dem ersten Anschein nach nicht zwingend einen Notarzt vor Ort brauchen. So ist dieser bei einem zeitgleich passierenden Notfall bei dem der Notarzt vor Ort gebraucht wird nicht blockiert.“ Eine klassische Anamnese dafür ist das Akute Koronarsyndrom (AKS) – ein Spektrum von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Oder eine Nierenkolik. „Da musste früher immer ein Notarzt hin. Wenn alle blockiert waren, wurde im Nachbarkreis angerufen. Heute machen wir das in der Regel mit dem Telenotarzt“, sagt Guido.
Wie bei “Notruf California”
Im Ruheraum auf der Wache liegt das Buch „De reis van mijn leven“ von Radio-Ikone Lex Harding aus den Niederlanden. Guido spricht fließend Niederländisch und liest gerne zwischen den Alarmen, sofern es möglich ist. „Die Reise meines Lebens – das ist eine schöne Geschichte über einen Vater, der erstmals lange Zeit mit seinen erwachsenen Söhnen verbringt. Ich bin seit 29 Jahren im Rettungsdienst, der Titel passt also gut“, sagt Guido. Er fuhr einige Jahre ehrenamtlich im Rettungsdienst, ehe er 1998 hauptberuflich als Rettungsassistent einstieg. Es folgte die Weiterbildung zum Lehrrettungsassistenten, um Kollegen im Dreiländereck Benelux ausbilden zu können. Mit der Novellierung des Berufsbilds zum Notfallsanitäter machte Guido 2019 die Ergänzungsprüfung. „Damit habe ich die aktuellen rettungsdienstlichen Ausbildungen absolviert“, sagt er.
Im Simulationszentrum Aixtra der Uniklinik RWTH Aachen kam Guido 2006 erstmals mit dem Telenotarzt in Berührung. Noch bevor die von der EU subventionierten Forschungsprojekte „Med-on-@ix“ und „TemRas“ starteten, wurden hier Rettungssituationen nachgestellt, bei denen er die Möglichkeit bekam, einen Notarzt per Funk zuzuschalten. „Da lag dann eine Hightech-Simulationspuppe im Raum, die unter anderem ferngesteuert sprechen konnte. Die neue Herausforderung war für mich die Kommunikation und Beschreibung des Geschehens mittels Handfunkgerät zum Arzt, der zwei Räume weiter saß“, sagt Guido. Er vergleicht das mit Szenen aus der US-Serie „Notruf California“. „Das waren meine ersten Eindrücke mit solchen Möglichkeiten. Sich die Freigaben für invasive Maßnahmen beim zugeschalteten Arzt einholen, das gab es bis dahin nicht in Deutschland“, sagt er.
Transportieren was man sieht
Im Januar 2021 wurde der Paragraph 2a des Notfallsanitätergesetzes angepasst. Bis zum Eintreffen des Notarztes oder bis zum Beginn einer weiteren ärztlichen, auch teleärztlichen, Versorgung dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter nun „heilkundliche Maßnahmen invasiver Art“ eigenverantwortlich durchführen, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden von der Patienten oder dem Patienten abzuwenden. „Das ist die Kompetenz, um die wir in Deutschland schon seit Jahren ringen. Ich freue mich, dass wir mittels Telenotarzt aus der Ohnmacht erwachen, im Ernstfall handlungsunfähig zu sein“, sagt Guido.
Wenn er in Schulungen neue Teams auf die Arbeit mit dem Telenotarzt vorbereitet, geht es auch um Medienpädagogik: „Das ist ein bisschen wie dem Papa TikTok zu erklären. Es gibt eine anfängliche Angst, noch mehr lernen zu müssen. Doch das weicht, sobald Teams beginnen, damit zu arbeiten“, sagt er. Transportieren was man sieht – das klinge einfacher, als es manchmal ist. Im Ernstfall kommt es auf genaue Absprachen an. Die Standards dafür wurden während Guidos Arbeitsleben erst etabliert. Aus Telefon-Dialogen wie „Telenotarzt hört!“ wurde über die Zeit ein „Hey Guido, was kann ich für euch tun?“. „Für die Anamnese arbeiten wir mit so genannten Brückenanweisungen. Das sind Buchstaben-Schemata wie „ABCDE“, mit denen wir die Patienten heute schnell im Team einschätzen können“, sagt Guido. Die Tonspur werde dabei auf das Nötigste und Verständlichste reduziert. „Der Telenotarzt spricht so wenig wie möglich und fragt soviel wie nötig“.
Mit jedem Einsatz wächst das Team zusammen. Immer wieder stolperte Guido in seinen Jahren als Rettungsassistent und Notfallsanitäter über Kompetenzgerangel zwischen den Verantwortlichen in der Rettungskette. Es sei ein Gewinn der Telemedizin, dass diese Gräben zunehmend überwunden werden, sagt er. „Heute können unsere Sanis problemlos Zugänge legen, EKGs interpretieren und Medikationen vorbereiten. Bei Unsicherheiten sichert uns der Telenotarzt ab.“ Der Vertrauensvorschuss und die Erweiterung der Kompetenzen sowie die Arbeit mit den digitalen Tools machen den Job für ihn besser denn je. Kürzlich erhielt Guido von seinen Kollegen eine neue gelbe Box, signiert von außen und gefüllt mit Proviant für die nächsten Einsätze – „Rettung ist eben Familiensache“.
Der Rettungswagen und das technische Equipement werden mit Beginn der Schicht getestet.
Auch die Funktionsweise der Telenotarzt-Technik wird untersucht.