Porträt

Per Knopfdruck auf Hallig Hooge

Kai Kottmann ist Telenotarzt und schaltet sich aus Aachen zu Notfällen in ganz Deutschland. Ein Schulterblick auf die digitale Rettungskette.

Es knarzt und ruckelt ein bisschen, dann rastet das Klappbett in der Feuerwehrwache Aachen ein. Zwei Meter lang, 90 Zentimeter breit, weißes Bettlaken, das Refugium aus der Wand. Hier legt sich Kai Kottmann während seiner 12-Stunden-Dienste nieder sofern es auf den Straßen und in Häusern ruhig bleibt. In einigen Nächten muss er nur vier Mal an den Rechner. In anderen bis zu sechszehn Mal. In wenigen Sekunden ist er dann im Notfallgeschehen. „Als Telenotarzt fehlt natürlich der Weg im Auto – Zeit, in der früher die Gedanken kreisten, erste Szenarien durchgespielt wurden. Hier am Schreibtisch ist man direkt in der Szenerie“, sagt Kottmann. Der 44-jährige Vater zweier Töchter und Mann einer Gynäkologin trägt eine Rahmenbrille, Bart, Hemd und Jeans – Alltagskleidung am Telenotarztplatz.

Seine Schaltzentrale in der Stolberger Straße in Aachen gleicht der eines Fluglotsen. Vier Monitore stehen in einem Halbkreis aufgereiht. Davor Tastatur, Maus, ein Kaffeebecher. Doch was sich auf den Monitoren abspielt, ist für viele noch neu: Telemedizin. Bei Einsätzen, die nach Einschätzung der Leitstelle nicht zwingend invasive Maßnahmen wie eine Intubation oder eine Dränage – also den physischen Einsatz eines Notarztes erfordern, kann Kai Kottmann per Headset oder Videoschalte hinzugerufen werden. Immer wieder schieben sich vor seinem Fenster die Rolltore der Feuerwehr auf und das Rettungsteam rückt mit Blaulicht vom Hof. An Bord der Fahrzeuge fährt seine Notarzt-Kompetenz und Rechtssicherheit mit. Sofern er konsultiert wird, kommt die Dokumentation des Einsatzes in Echtzeit inklusive Aufnahme-Abklärung dazu. „So können Kolleginnen und Kollegen andernorts zu schwerwiegenderen Einsätzen gebracht werden. Die freiwerdenden Ressourcen auf der Straße retten Leben“, sagt er.

Telemedizin mit Priorität

Selbst in gut erschlossenen Gebieten dauert es sechs oder sieben Minuten, bis die Rettung am Einsatzort ist. Im Falle eines Herzstillstandes sind neuronale Folgen ohne Sauerstoffzufuhr bereits nach drei Minuten zu erwarten. Die App „Corhelper“ kann in Echtzeit die Verfügbarkeit geschulter Ersthelfer prüfen und helfen, diese in unter drei Minuten an einen Einsatzort zu bringen. In Zukunft soll Kottmann auch dabei zugeschaltet werden können. Doch den wesentlichen Teil seiner Einsätze machen die Anrufe aus den Rettungswagen aus, die mit Technik der umlaut telehealthcare GmbH ausgestattet sind. An die 30.000 Einsätze hat das Team seit 2014 auf mehr als 60 Rettungswagen in 10 Kreisen begleitet. Inzwischen haben Kottmann und seine Kollegen an die 75 weitere Telenotärzte ausgebildet – in Aachen, Kiel, Gelnhausen und Greifswald. „Damit sind wir das Original“, versichert er und beobachtet dabei die Aachener Stadtkarte auf seinem Bildschirm. Die farbigen Punkte bewegen sich zum Teil – Rettungswagen in und außer Dienst sowie auf Abruf.

Während seiner Ausbildung zum Anästhesisten in der Uniklinik RWTH Aachen kam Kottmann 2007 erstmals in Berührung mit dem Telenotarzt. In den Jahren bis 2013 gehörten die Forschungsprojekte „Med-on-@ix“ und „TemRas“ zu den ersten geförderten Telemedizin-Projekten durch die Europäische Union. „In dem Jahr kam das erste iPhone auf den Markt. Der Funktionsumfang war dementsprechend ein anderer als heute“, sagt Kottmann rückblickend. 2014 nahm er selbst die Arbeit als Telenotarzt auf. Voraussetzung waren mehr als 500 Notarzt-Einsätze, sein Facharztstand, eine Notfallmedizinprüfung, das Wiederbelebungs-Zertifikat ERC sowie das Pre Hospital Trauma Life Support (PHTLS) Zertifikat. „Heute befassen wir uns eher mit Big Data-Anwendungen und Künstlicher Intelligenz.“ Themen wie diese setzte das Bundesministerium für Gesundheit mit dem Innovationsforum „Digitale Gesundheit 2025“ auf die Prioritäten-Liste.

„Reingestolpert und geblieben“

Zum Einzugsgebiet von Kottmanns Kompetenz gehören Träger in Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern, die je nach Bedarf nur mit passender Technik – oder vollumfänglich mit dem Telenotarztdienst, Schulungen und entsprechender Personaldecke unterstützt werden. Eine besondere Abwechslung war das Forschungsprojekt „HALLIGeMED“ im Institut für Rettungs- und Notfallmedizin des Uniklinikums Schleswig-Holstein in Kiel. Von hieraus wurden die Gemeinde-Pfleger mit rettungsdienstlichen Ausbildungen auf den Halligen Hooge und Langeneß-Oland fast zwei Jahre lang telemedizinisch unterstützt. Das Projekt endete 2020, doch die technische Ausstattung blieb auf den Halligen; die umlaut Telenotärzte unterstützen jetzt aus Aachen. „Auf der Hallig gibt es im Jahr etwa 50 Einsätze, bei denen notärztlicher Beirat erforderlich ist – die Grenzen zwischen hausärztlichem Rat und ernsteren Notfällen verschwimmen hier“. Ein Hubschrauber bräuchte vom Festland bis zu 30 Minuten, um vor Ort zu sein. Kottmann und sein Team sind per Telefonschalte auf Knopfdruck sofort dabei. „Dann meldet sich die Sanstation Hooge und die Kamera schwenkt manchmal raus auf die Warft“, sagt Kottmann.

Die Kaffeekranzfrage nach seiner Berufswahl beantwortet er pragmatisch: „Ich bin da reingestolpert und geblieben“. Er suchte eine Zivildienststelle und bewarb sich beim Malteser Fahrdienst, doch die hatten nur einen Platz auf einem Krankentransport frei. Dreizehn Monate später schloss der gebürtige Kölner eine Ausbildung zum Rettungsassistent an, überbrückte damit Wartesemester zum Medizinstudium und konnte anschließend fast nahtlos den Übergang zur Uni Aachen machen. „Mit schätzungsweise 30 Wartesemestern wäre ich heute wohl chancenlos“, sagt er. Doch der Zugang zum Rettungsberuf habe sich etwas vereinfacht. Eine grobe Angleichung der länderspezifischen Anforderungen gelang durch die Einführung des Berufsprofils „Rettungsassistent“, aus der später der Notfallsanitäter wurde.

Kommunikation als neue Chance

„Eine Herausforderung für jede Rettung ist neben der Zeit vor allem die Kommunikation zwischen allen Gliedern der Rettungskette“, sagt Kottmann. Auf den vier Screens in der Feuerwehrwache stehen ihm dafür Vitaldaten, eine Videoschalte in den Wagen sowie leitlinienorientierte Verfahrensanweisungen zur Verfügung. Die Tools an Bord des Rettungswagens vermitteln ihm jederzeit und von überall ein verlässliches Bild vom Notfallgeschehen. Der Vitalmonitor übermittelt die Daten in Echtzeit über den universellen Router, die so genannte „PeeqBOX“, auf Kottmanns Schreibtisch in der Wache. Bei seinem letzten Einsatz gab es einen Verdacht auf Herzinfarkt. Die Notfallsanitäter vereinbarten mit dem Patienten die Zuschaltung Kottmanns, um die Medikation abzustimmen. Das Gespräch dauert wenige Minuten, bis das Team den Verdacht vom Infarkt auf ein Thorakales Aortenaneurysma lenkte – also eine Aussackung der großen Schlagader, die eine gänzlich andere Behandlung erforderte. Die Diagnose bestätigte sich später im Krankenhaus – eine Teamleistung, wie Kottmann sagt. Er sieht sich in seiner Rolle als Telenotarzt auch als Mediator: „Es hilft, Empathie in diesen Job mitzubringen. Das Team vor Ort ist näher am Geschehen, in meiner Rolle als Telenotarzt bin ich eher externer Berater, biete Rechtssicherheit und helfe bei Entscheidungen. Ich habe schon das Gefühl, dass das den Teamgeist fördert.“

In der Kommunikation entlang der digitalen Rettungskette spielen Daten eine immer wichtigere Rolle. Bei der umlaut telehealthcare geschieht das verschlüsselt und über mehrere Mobilfunknetze – unter anderem, um stabile Netze auch an schwer zugänglichen Einsatzorten sicherzustellen und eine lückenlose Dokumentation zu gewährleisten. „Für uns sind Datensätze aus der Audio-Kommunikation, aber auch Vitaldaten, Fotos und Videos aus der EKG Diagnostik eine wachsende Ressource. Mit jedem Einsatz wird unsere Wissensdatenbank genauer. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in diese künstliche Intelligenz gepaart mit dem menschlichen Feingefühl unserer Telenotärzte“, sagt Kottmann. Seinen Beruf will er sich trotz der Vorzüge wie der räumlichen und zeitlichen Flexibilität nicht ohne physische Einsätze vorstellen. „Etwa fünf Mal übernehme ich monatlich noch selbst Schichten als Notarzt. Dann tausche ich Headset gegen Einsatzjacke und echte Begegnungen – die Mischung macht die Rettung für mich zum Traumberuf“.